von Sabine Ferenschild

Das Italienische Institut für internationale politische Studien (ISPI) weist zusätzlich auf den drastisch sinkenden Anteil derjenigen hin, die ihr Ziel Europa erreichen: Während noch 2016/2017 die meisten Menschen, die über das zentrale Mittelmeer nach Europa migrieren wollten, Europa auch erreichten, wurden von Januar – April 2019 die meisten zurück nach Libyen gebracht oder galten als verstorben bzw. vermisst. Entscheidend für diesen radikalen Umschwung sind der Rückzug der EU aus der Seenotrettung, die Übernahme dieser Aufgabe durch die libysche Küstenwache und die massive Bekämpfung der privaten Seenotrettung durch europäische Mitgliedsstaaten, insbesondere Italien unter der ersten Regierung Conte (Movimento 5 Stelle und Lega Nord) bis Sommer 2019.
Dass der größte Teil der Menschen ohne Papiere, die über die zentrale Mittelmeerroute nach Europa wollen, nach Libyen zurückgebracht und dort in der Regel inhaftiert wird oder als tot bzw. vermisst gilt, bedeutet zugleich das katastrophale Scheitern Europas und der europäischen Idee von einer Welt der Menschenrechte und des friedlichen Zusammenlebens. Mit dem eher harmlosen Begriff „Politikversagen“ allein lässt sich das, was durch das Sterben im Mittelmeer zum Ausdruck kommt, nicht beschreiben. Die Gleichgültigkeit, mit der das Sterben der Anderen für die eigene, angeblich durch diese Anderen bedrohte Sicherheit hingenommen wird, ist eher Ausdruck eines zunehmenden Fremdenhasses. Wäre diese Gleichgültigkeit genauso groß, wenn es sich bei den Toten im Mittelmeer nicht um schwarze Afrikaner*innen handeln würde?
Neben den Toten und Vermissten unbekannter Herkunft bilden diejenigen aus Sub-Sahara-Afrika seit Jahren (2014-2018) die größte Gruppe. Dies trägt zu der Auffassung bei, dass afrikanische Migration nach Europa primär irregulär sei. Das stimmt aber nicht: der größte Teil der afrikanischen Migration nach Europa erfolgt regulär, also mit Einreiseerlaubnis, wie die Daten einer Studie der Internationalen Organisation für Migration für die Jahre 2009-2016 belegen.
Angesichts des Scheiterns der EU-Politik im Umgang mit irregulären Migrant*innen, die über den gefährlichen Seeweg nach Europa wollen, kann man nur dankbar sein für die zahlreichen privaten Initiativen von Save the Children, der Boat Refugee Foundation, SOS Mediterranee, Sea Eye, Jugend rettet IUVENTA, Sea-Watch oder United4Rescue. Sie sind es, die durch ihren Einsatz für das Leben der Migrant*innen Europa bzw. die europäische Idee oder den christlich-abendländischen Wertekanon retten. Ohne diese engagierte, wenn auch viel geschmähte Nothilfe sähe es auf dem Mittelmeer noch dramatischer aus.
Ein weiterer Hoffnungsschimmer ist das kommunale Bündnis „Städte Sicherer Häfen“. Es fordert einen (1) Notfallplan für Bootsflüchtlinge, (2) die Möglichkeit für europäische Kommunen, freiwillig zusätzliche Schutzsuchende aufzunehmen und vor allem: (3) keine Rückführung nach Libyen, da die Menschen dort systematischer Folter und Zwangsarbeit ausgesetzt sind.
Alle diese Initiativen entbinden die EU aber nicht von ihrer Verpflichtung, Verantwortung für die Situation im Mittelmeer zu übernehmen. Solange Menschen im Mittelmeer sterben, weil die EU sich aus der Seenotrettung zurückgezogen hat, oder in Libyen versklavt werden, sind alle Bekenntnisse zu europäischen Grundwerten das Papier nicht wert, auf dem sie geschrieben sind.